Mit meiner Tochter sah ich gestern alte Fotos an. Wir kamen zufällig dazu und blieben an den Fotos und den Geschichten hängen. Fotos aus einer Zeit vor ihrer Zeit.

Vor ein paar Jahren half ich meinen Eltern beim Verfassen der Dorfchronik des kleinen niedersächsischen Dorfes Oersdorf, in dem ich aufgewachsen bin.

Die Wochen in denen ich während dieser Zeit in die Dorfgeschichten eintauchte, führten zu einer Lebendigkeit der Erlebnisse und ließen mich mein Verwobensein in die Geschichte, Orte und Beziehungen spüren.  Sie machten mir gleichzeitig meine Endlichkeit aufs Neue bewusst.

Ich erfuhr bei der Arbeit an der Dorfchronik, wer alles schon durch unser Dorf an der Via Baltica gezogen war, dorthin zugewiesen wurde, dort gelebt hatte oder nur eine Zwischenstation dort hatte.

Die Gaststätte in der Dorfmitte, umgeben von riesigen Kastanien- und Eichenbäumen ist so ein Ort, der lebendig wurde. In den 80ern war sie bekannt als gute Adresse für Hochzeitsfeiern. Als Jugendliche jobbte ich dort als Kellnerin und habe dort viele Dorffeste mitgefeiert. Aber die Geschichte dieses Hauses reicht weiter.  

Lager für Notstandarbeiter und Kriegsgefangenenlager

1936 war die 1820 gegründete Brandweinbrennerei des Bauern Müller, als Lager für Notstandarbeiter umfunktioniert worden. Eine Verordnung von 1919 sollte nach dem 1. Weltkrieg und der dann folgenden großen Arbeitslosigkeit Menschen aus Hamburg und Umgebung wieder in Arbeit bringen. 1938 wurden die Arbeiter abgezogen und jüdische Arbeiter mussten die Arbeiten übernehmen und kamen in das Lager.

1940 wurde die Gaststätte Außenlager des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel. Die Gefangenen wurden von Wachmännern morgens auf die Höfe gebracht und abends wieder in das Lager eingesperrt. In der Futterküche eines nahegelegenen Schweinestalls war eine Pumpe. Dort konnten sich die Gefangenen waschen.

Eine Verbrüderung war gesetzlich verboten. Die Gefangenen durften nicht am Tisch mit den Bauernfamilien sitzen. Zunächst ist es auch so praktiziert worden. Doch zum Kriegsende aßen viele Gefangene mit am Tisch der Familie. Nicht jeder war wohl damit einverstanden. Es kam zu Anzeigen bei der Polizei.

Beobachtungen eines 12-jährigen Bauernjungen

G. Brunkhorst notiert in seinen Erinnerungen aus dieser Zeit (1):

Im Spätherbst 1941 kamen die ersten russischen Kriegsgefangenen nach Oersdorf. Der Russlandfeldzug tobte schon länger. Sie mussten beim Bau der Hochspannungsleitung Bremen-Farge-Harburg helfen.

Die Aufgabe der Gefangenen war es, vornehmlich beim Ausschachten und Betonieren der Sockel zu helfen. Es wurden kleine Trupps von 10 Gefangenen gebildet, die in Handarbeit die 3 Meter tiefen Sockellöcher ausgraben mussten. Dabei wurden sie von einem Oersdorfer Wachmann beaufsichtigt. Es war eine schwere Arbeit.

Ich schaute als Kind häufig bei der Arbeit zu, denn diese Sockellöcher wurden auch auf den Feldern meines Vaters gegraben. Die Arbeiter sahen sehr verhungert aus. Auch sie kamen aus dem Lager Sandbostel, wo sie schon schlecht ernährt worden waren. Und hier in Oersdorf fehlte ihnen die Verpflegung, wie sie den Gefangenen auf den Höfen gewährt wurde. Ich beobachtete, wie die Gefangenen immer wieder erschöpft Pause machen mussten. Dann griffen sie in ihre Jackentasche, holten ein Stück Papier heraus, in dem sie etwas Kochsalz eingewickelt hatten. Davon nahmen sie einige Körner und ließen sie auf der Zunge zergehen. In Gesprächen mit dem Wachmann und auch mit den Gefangenen erfuhr ich, dass das ihre Hauptnahrung war. Mit Erlaubnis des Wachmannes und meiner Eltern brachte ich in der nächsten Zeit regelmäßig Kartoffeln und selbstgebackenes Bauernbrot zu den Arbeitern. Ich stellte das Körbchen am Rande eines Wäldchens in ihre Weide. Dort durften die Arbeiter die Kartoffeln kochen und auch ihr Brot essen. […]

Und wenn man als 12-jähriger Junge so ganz in der Nachbarschaft wohnt und fast täglich in die Augen der Gefangenen schaut, dann fragt man sich schon: „Was soll das Ganze?“

Am 25.4.1945 trafen die Engländer in Oersdorf ein. Das Wachkommando der Deutschen hatte alle Unterlagen verbrannt und sich selber aufgelöst.

(1) Aus: Oersdorf & Kohlenhausen, Dorfgeschichte und Geschichten, 2019. Darin: Bericht über das Kriegsgefangenenlager Oersdorf, aus: Jahrbuch „Geschichte und Gegenwart 2002“, des Vereins für Kloster und Heimatgeschichte Harsefeld.