Weihnachtserinnerungen, aufgeschrieben am 23.12.2018

Ich mag das Wort „Christvesper“.

Direkt nach der Mittagstunde fahren wir los. Ich habe einen schönen weißen Rollkragenpulli an. Mama hat Katrin und mir die Sachen hingelegt. Sie möchte, dass wir etwas Warmes anhaben. Sie hat selbst auch einen Rollkragenpulli an. Ich bin so aufgeregt, meine Wangen glühen. Alles ist anders heute.

Es wurden Stühle in den Gang gestellt und es ist so viel los. Die Jugendlichen zünden die Kerzen an. Nicht nur an den Tannenbäumen, auch am Altar wird eine Kerzenreihe angezündet. Der Adventskranz ist weg, dafür hängt jetzt der Weihnachtsstern über dem Taufbecken. Es kommen so viele Menschen. Papa hat mir gesagt, dass die Bauern ihre Kühe schon seit einer Woche jeden Tag etwas früher melken, um sie am Heiligabend schon früh melken zu können. Schließlich ist die Christvesper um 3 Uhr und auch die Bauern möchten kommen.

Ich sitze mit Katrin und Mama in unserer Reihe in der Mitte, auf der linken Seite. Papa ist auf der Empore. Ihre Handtasche hängt an dem Haken direkt vor uns. Mama zieht erst morgen am 1. Weihnachtstag ihre schönsten Sachen an und Papa dann einen Anzug, denn dann gehen sie zum Abendmahl. Mama hat nicht viele schicke Sachen. Ich finde es toll, wenn sie dann ihre hochhackigen Schuhe anzieht. Das macht sie ganz selten, es ist ihr zu unpraktisch und unbequem. Zu Hause spielen wir öfter damit. Sie stehen in ihrem Schrank.

Die Kirchbänke sind alt und riesig hoch. Es knartscht, wenn wir vom Gang in die Bänke mit dem Holzboden treten. Man muss einen kleinen Schritt machen, denn es liegt ein kleiner Balken quer als Abtrennung. Oft stolpern Leute, aber die meisten fallen nicht hin. Es knartscht auch beim Aufstehen und beim Niederknien. Wir sind früh da und haben einen schönen Platz von dem aus ich mich auf der Kirchbank kniend gut umkucken kann.  Unsere Jacken bilden ein kleines Nest um jeden Platz und ich fühle mich sicher neben Mama und gut geschützt von dem Raum zwischen der Kirchenbank, der Buchablage und der Kniebank. Ich muss mich strecken, um vorn über die Bank zu schauen. Auf unserer Seite sitzen noch Timmermanns, Kamanns, Behnkens, Gerkens und Tomhaves, und Tante Irmagard Tobaben, Tante Lisa Burfeind und ihre Schwester und viele andere. Es sind viel mehr Frauen unten. Die Männer sind oben auf der Empore mit ihren Blechblasinstrumenten.

Die Deinstedter sind natürlich auch da, Oma, Opa, Ernsi, die Jungs, Tante Marlies und Onkel Friedrich. Oma, Opa und Ernsi sitzen auf der anderen Seite zwei Reihen vor Tante Marlies und Onkel Friedrich. Der Blockflötenkreis spielt unten, die Konfirmanden sitzen vorn und dann beginnt der Heiligabendgottesdienst.

Wir singen Lieder, die ich kenne. Ich singe etwas mit. Dabei beginne die bunten Fäden, die im Gesangbuch hängen, mit meinen Fingern glatt zu streichen. Die Bänder sind so schön, sie glänzen so schön. Ich überlege, welche Farbe ich am schönsten finde.

Dann entscheide ich mich dazu, sie aufzuzwirbeln und aus den drei Bändern eines zu machen. Mama hat ihr eigenes Gesangbuch. Es ist super alt und es steht ihr Name drauf: Christa Böschen.

Komisch, dass Mama mal eine anderen Namen hatte, einen Mädchennamen. Mamas Jacke ist warm. Ich sitze ganz nah bei ihr. Nach dem Lied stehen wir auf zum Beten. Ich stelle mich meist auf die Kniebank und versuche die Hände zu falten und dabei auf dem schrägen Brett stehenzubleiben ohne mich festhalten zu müssen. Es ist schwer. Manchmal gerate dabei ich aus dem Gleichgewicht und muss mich schnell festhalten, um nicht auf den Boden zu treten. Denn dann hätte ich verloren. Ich spiele gegen mich selbst.

Gerade als ich endlich die Pullmoll in Mamas Handtasche gefunden habe, hört man oben ein Getrappel und Geknartze und dann singt der Singchor „Tritt der Schlange Kopf entzwei“. Unser Organist, Onkel Hannes, schwitzt ganz doll und dirigiert mit einem Stock. Man sieht ihn, wenn man sich ganz verrenkt. Auf der Empore gibt es einen kleinen Vorsprung auf dem er steht. Ich finde es gut, wenn der Kopf der Schlange zertreten wird. Schlangen sind giftig und böse. Ich hoffe, dass Onkel Hannes niemals von der Empore fällt. Eigentlich ist er Busfahrer, er kommt immer auf den letzten Drücker, aber er liebt die Musik.

An Mamas Handtasche ist der Reisverschluss nicht mehr ganz in Ordnung. Sie hat schon versucht ihn mit Kerzenwachs wieder schmierig zu machen. Das Leder ist ein bisschen fleckig und abgenutzt. Es fällt mir zu Hause nicht auf, aber in der Kirche sehe ich die feinen Taschen der anderen Frauen. Mama ist ganz konzentriert, sie denkt ganz an Weihnachten, nicht an die Geschenke, sondern an das Jesuskind und manchmal zittern in der Kirche ihre Lippe ein bisschen.

Die Predigt beginnt. Viele nehmen sich jetzt einen Bonbon aus der Handtasche. Ich schaue mir Mamas Hände an und streichele ihre Hand. Ihre Finger sind nicht dürr und nicht dick. Ich nehme ein paar Finger und fahre daran entlang. Sie hält ihre Hand auf dem Schoß und ich kann mit ihren Fingern spielen und sie anschauen. Einen nach dem anderen. Sie hat kleine Ritzen in den Fingern von Schälen. Ihr Ehering sitzt ziemlich fest. Mama macht ihn mir ab, damit ich ihn mir anschauen kann. Ganz früher, als Mama und Papa noch nicht bei uns waren, haben sie geheiratet. Es ist unendlich lang her. Ich bin jetzt 5. Damals heirateten sie in einer Scheune und meine Mutter war ganz hübsch und mein Vater hat sie auf den Fotos verliebt angeschaut.

Ich bin froh, dass heute Heiligabend ist. Da ist kein Kindergottesdienst, und ich kann in Ruhe mit Mamas Händen spielen und niemand stört mich dabei.

Nach der Predigt sagen die Konfirmanden die Weissagungen auf. Ich verstehe sie alle nicht. Die Haupt- und die Vorkonfirmanden mussten sie auswendig lernen und versprechen sich manchmal oder kommen nicht weiter. Manche sagen sie ganz schnell auf, manche ganz leise. Alle stehen in einer Reihe und haben eine Kerze in der Hand mit einem Pappring drum. Ich mag Wunder-Rat-Gott-Held-Ewig-Vater-Friedefürst.

Ein Zweig am Tannenbaum fängt an zu brennen. Der Küster holt schnell Wasser und wir singen einfach weiter und schauen ihm zu beim Löschen. Es riecht schön.

Mama findet es schade, dass in der Kirche keine Krippe steht und dass wir zwei Tannenbäume haben. Sie ist bescheiden und fromm. Ich mag die beiden Bäume, aber ich mag auch Mama.

Ich darf den Pullmoll, den ich lose in Mamas Handtasche gefunden hatte haben. Ich soll Katrin nichts davon sagen… Er ist etwas sandig und fuselig. Lieber mag ich andere Bonbons. Aber ich bin froh, dass Mama mindestens Pullmoll mag. Sie sind aus der Harsefelder Apotheke. Dort kauft Mama auch ihre Zahnpasta.

Zu Hause haben wir nur eine Krippe und keinen Weihnachtsbaum. Aber wenn die Kerzen dann am Abend bei uns in der Stube an der Krippe alle an sind, dann ists auch ganz gemütlich. Katrin und ich suchen uns einen Platz ganz nah an der Krippe und schauen uns alle Figuren genau an, die auf dem grünen Krepppapier stehen.

Dann macht Papa noch einen Witz, damit er selbst nicht mehr so innerlich ist und dann singen und spielen wir „Komm wir gehen nach Betlehem“ und dann packen wir unsere Geschenke aus.